Kategorien
Zahnradprotokoll

Verzahnungsprotokoll verstehen: Seltsame Abweichungen

In der Praxis bekomme ich immer wieder Verzahnungsmessprotokolle vorgelegt. So lange die Abweichungen in Toleranz sind, ist alles in Ordnung. Es kommt aber hin und wieder vor, dass die Ergebnisse der Verzahnungsmessung nicht so sind wie erwartet. Die große Frage ist dann: Was ist die Ursache?

Solange nach der Ursache gefragt wird, ist noch alles in Ordnung. Wenn die ersten Schuldzuweisungen kommen, z.B. „Die Auswertesoftware rechnet falsch!“, wird es schwierig.

Ruhe bewahren

Am besten wir bewahren ruhe und atmen tief durch. Wir müssen das Problem Schritt für Schritt analysieren. Dann finden wir heraus, was die Ursache für die falschen oder seltsamen Ergebnisse ist. Es gibt jede Menge Einflüsse auf das Messergebnis (siehe Genauigkeit einer Messung). Ein Einfluss ist die Auswertesoftware, ein anderer ist der Bediener.

Beispiel: Seltsame Profilabweichungen

Nehmen wir einen Beispielfall, bei dem die Profildiagramme seltsame Formabweichungen zeigen.

Profil-Diagramme: Seltsame Formabweichungen
Profil-Diagramme: Seltsame Formabweichungen

Man könnte sagen, solange alle Profilabweichungen noch in der Toleranz sind, kann man den Verlauf der Abweichungen ignorieren. Leider kann man das nicht. Diese Profil-Diagramme zeigen im Kopfbereich Plus-Material. Dieses vorstehende Material am Kopf führt zu einem verfrühten Zahneingriff. Dieser beeinflusst die Laufruhe und das Geräuschverhalten negativ. Außerdem kann der Zahn am Kopf überlastet werden, da sich die Last nicht auf die gesamte Flanke verteilt.

Analyse

Wir müssen also herausfinden, was diese großen Profil-Formabweichungen und das vorstehende Material verursacht.

Der erste Ansatzpunkt ist zu kontrollieren, ob die Zahnradparameter korrekt von der Zahnradzeichnung in die Verzahnungsmesssoftware eingetragen wurden. Die Zahnradparameter definieren die Verzahnung und damit die Evolvente als Flankenform.

Im vorliegenden Fall habe ich leider keinen Zugriff auf die Zeichnung bekommen. Mein Kunde hat mir nur bestätigt, dass alle Parameter korrekt eingegeben wurden.

Als nächstes sehe ich mir die Messdaten genauer an: die gemessenen Zahnprofile. Es handelt sich um ein Zahnrad mit einem Eingriffswinkel von 30°. Das heißt wir haben es mit einer Steckverzahnung zu tun. Der Eingriffswinkel von Laufverzahnungen ist eher bei 20° oder kleiner. Steckverzahnungen haben einen größeren Eingriffswinkel, gängige Werte sind 30°, 37.5° und 45°.

Profilkontur der Zähne im Stirnschnitt
Profilkontur der Zähne im Stirnschnitt

Die Messpunkte sind im Stirnschnitt aufgenommen worden, d.h. alle Profil-Messpunkte liegen auf einer Z-Ebene. Das ist gut, da das Profil im Stirnschnitt gemessen und ausgewertet werden muss.

Stutzig macht mich die Form der Flanken. Das Zahnrad ist als Evolventen-Verzahnung definiert worden und soll auch so ausgewertet werden. Die Evolvente ist eine gekrümmte Kurve. Danach sieht es hier nicht aus. Es ist jedoch so, dass die Krümmung bei einem größeren Eingriffswinkel nicht so deutlich erkennbar ist. Diese Flanken sehen jedoch sehr gerade aus.

Überprüfen der Flankenform

Ich beschließe, meinem Verdacht nachzugehen – man soll ja auf sein Bauchgefühl hören – und überprüfe die Flankenform.

Wie mache ich das? – Ich kopiere das Messprogramm und führe eine virtuelle Messung durch. Bei der virtuellen Messung erhalte ich die Messpunkte, die der idealen Verzahnung entsprechen.

Profil-Diagramme: Virtuelle Messung = keine Abweichungen
Profil-Diagramme: Virtuelle Messung = keine Abweichungen

Die Messergebnisse sehen nicht spektakulär aus. Alle Abweichungen sind Null, so wie es sich für eine ideale Verzhanung gehört. Jetzt kann ich die Messdaten der realen Verzahnung mit denen der idealen Evolventenverzahnung vergleichen. Der Vergleich zeigt, dass es tatsächlichen einen Unterschied in der Flankenform gibt.

Profilkontur der Zähne: Vergleich mit Evolventen-Profil (orange, grau)
Profilkontur der Zähne: Vergleich mit Evolventen-Profil (orange, grau)

Mein Verdacht hat sich bestätigt, die Flankenform des gemessenen Zahnrades ist keine Evolvente.

Da es sich um eine Steckverzahnung mit 30° Eingriffswinkel handelt, liegt ein Verdacht nahe: Es handelt sich hier eventuell nicht um eine „Zahnwellen-Verbindung mit Evolventenflanke“ nach DIN 5480, sondern um eine Kerbverzahnung nach DIN 5481. Beide Verzahnungstypen sind eng mit einander verandt. Beide haben Eingriffswinkel von 30°. Kerbverzahnungen sind ebenfalls Mitnehmerverzahnungen. Kerbverzahnungen haben jedoch geradflankige Zähne im Gegensatz zu Verzahnungen nach DIN 5480.

Blick auf die Details

Da die Formabweichung des Profils recht ungewöhnlich aussieht, möchte ich mir die Unterschiede zwischen der Ist-Flanke und der Evolvente noch genauer anschauen.

Dazu vergrößere ich die Darstellung der Flanken und drehe den Zahn senkrecht. So kann ich die Abweichungen im Profildiagramm besser mit der Flankenform vergleichen.

Vergleich Ist-Profil (blau) und Soll-Profil (= Evolvente)
Vergleich Ist-Profil (blau) und Soll-Profil (= Evolvente)

Jetzt sieht man den Unterschied zwischen Soll-Profil und Ist-Profil deutlicher. Aber entspricht das wirklich den Abweichungen, die ich in den Profildiagrammen sehe?

Ich ändere die Farben der beiden Profile auf schwarz (= ideale Evolvente) und rot (= Farbe für die Abweichungen im Profildiagramm). So fällt der Vergleich zu der Kurve im Profildiagramm leichter.

Vergleich Ist-Profil (rot) und Soll-Profil (schwarz = Evolvente) für Linksflanke mit Profildiagramm
Vergleich Ist-Profil (rot) und Soll-Profil (schwarz = Evolvente) für Linksflanke mit Profildiagramm

Tatsächlich kann man jetzt den Zusammenhang deutlich erkennen:

  • Am Fuß des Zahnes läuft das Ist-Profil (= rot) ins Positive,
  • In der Mitte der Zahnflanke erzeugt das Ist-Profil im Vergleich zur Evolvente negative Abweichungen, die Flanke erscheint hohlballig,
  • Am Kopf des Zahnes läuft das Ist-Profil wieder ins Positive.

Das ist exakt der Verlauf, den man im Profildiagramm sieht.

Fazit

Wir haben die Ursache für die seltsamen Profilabweichungen gefunden. Eine Kerbverzahnung nach DIN 5481 wurde mit einer Steckverzahnung mit Evolventenprofil nach DIN 5480 verwechselt.

Kerbverzahnungen haben eine Gerade als Flankenform. Werden diese als Evolventenverzahnung gemessen und ausgewertet, ergibt sich ein Verlauf der Profilabweichungen, der aussieht wie eine hohlballige Flanke.

Trotz der Verwechslung ist das Messen der Kerbverzahnung kein Problem. Die Unterschiede in der Geometrie ist so gering, dass es nicht zu Kollisionen bei der Messung kommt.

Bei der Auswertung zeigen sich die Unterschiede. Die Auswertesoftware berechnet die Abweichungen zur Evolvente und es werden eine hohlballige Flanke und ein großer Profil-Formfehler sichtbar.

Von Klaus Stein

Ich bin seit 20 Jahren in der Softwareentwicklung und in der Koordinatenmesstechnik tätig.
Die Verzahnungsmesstechnik ist mein Schwerpunkt.